Kapitel 8

Das Verhör Christi

Als die Engel den Himmel verließen, legten sie in Traurigkeit ihre glänzenden Kronen nieder. Sie konnten sie nicht tragen, während ihr Gebieter leiden und eine Krone aus Dornen tragen musste. Satan und seine Engel waren in der Gerichtshalle beschäftigt, jedes menschliche Gefühl und Mitleid zu vernichten. Sogar die Atmosphäre war schwer und von ihrem Einfluss verunreinigt. Die Hohenpriester und Ältesten wurden von ihnen beeinflusst, Jesus auf eine Weise zu misshandeln und zu beschimpfen, die für die menschliche Natur am schwersten zu ertragen ist. Satan hoffte, dass solche Beschimpfungen und Leiden bei dem Sohn Gottes etwas Klagen oder Murren hervorrufen würden; oder dass er seine göttliche Macht offenbaren und sich selbst aus den Händen der Menge befreien würde, so dass der Erlösungsplan auf diese Weise zuletzt fehlschlagen würde.

Petrus folgte seinem Herrn nach dessen Verrat. Er war besorgt zu sehen, was man mit Jesus machen würde. Und als er beschuldigt wurde, einer von Jesu Jünger zu sein, da verleugnete er dies. Er fürchtete um sein Leben, und als man ihn beschuldigte, er sei einer von ihnen, da erklärte er, dass er diesen Menschen nicht kenne. Die Jünger waren bekannt wegen der Reinheit ihrer Worte; und weil er sie betrügen und davon überzeugen wollte, dass er keiner von Christi Jüngern sei, verleugnete Petrus es zum dritten Mal mit Fluchen und Schwören. Jesus, der etwas von Petrus entfernt war, wandte ihm einen traurigen, tadelnden Blick zu. Da erinnerte er sich an die Worte, die Jesus zu ihm im Obergemach gesagt hatte und auch an seine eigene, eifrige Behauptung: „Wenn auch alle an dir Anstoß nehmen, so werde doch ich niemals Anstoß nehmen!“ Er hatte seinen Herrn sogar mit Fluchen und Schwören verleugnet, aber dieser Blick von Jesus erweichte Petrus sofort und errettete ihn. Er weinte bitterlich und bereute seine große Sünde und wurde bekehrt. Dann war er vorbereitet, seine Brüder zu stärken.

Die Menge schrie nach Jesu Blut. Sie geißelten ihn grausam, legten ihm einen alten, königlichen Purpurmantel um und setzten auf sein heiliges Haupt eine Krone aus Dornen. Sie gaben ihm einen Rohrstab in die Hand, verbeugten sich spöttisch vor ihm und begrüßten ihn mit: „Sei gegrüßt, König der Juden!“ Dann nahmen sie ihm den Rohrstab aus der Hand und schlugen ihm damit auf das Haupt, wodurch die Dornen in seine Schläfen eindrangen und das tropfenden Blut sein Gesicht und seinen Bart hinunterlief.

Es war schwer für die Engel, diesen Anblick zu ertragen. Sie hätten Jesus aus deren Hände befreit, aber die befehlenden Engel verboten es ihnen und sagten, ein großes Lösegeld müsste für den Menschen bezahlt werden; aber es würde vollständig sein und den Tod dessen verursachen, der die Macht über den Tod hatte. Jesus wusste, dass Engel Zeugen der Szenen seiner Demütigung waren. Ich sah, dass der schwächste Engel die Menge kraftlos zu Boden fallen lassen und Jesus hätte befreien können. Er wusste, wenn er es von seinem Vater erbitten würde, dann würden die Engel ihn sofort befreien. Aber es war notwendig, dass Jesus vieles von bösen Menschen erleiden sollte, um den Erlösungsplan auszuführen.

Da stand Jesus, sanftmütig und demütig, vor der wütenden Menge, während sie ihn aufs Schändlichste misshandelte. Sie spuckten ihm ins Angesicht – das Angesicht, vor dem sie sich eines Tages zu verstecken wünschen, das die Stadt Gottes erleuchten und heller scheinen wird als die Sonne. Doch nicht einen zornigen Blick warf er auf die Übeltäter. Sanftmütig hob er seine Hand und wischte es ab. Sie bedeckten seinen Kopf mit einem alten Gewand, verbanden ihm die Augen und schlugen ihn dann ins Gesicht und riefen aus: „Weissage uns, wer es war, der dich schlug.“ Da waren die Engel in Aufregung. Sie hätten ihn sofort gerettet, doch ihr befehlender Engel hielten sie zurück.

Die Jünger hatten Mut gefasst, in den Raum einzutreten, wo Jesus war, und Zeugen seines Verhörs zu werden. Sie erwarteten, dass er seine göttliche Macht offenbaren, sich selbst aus den Händen seiner Feinde befreien und sie für ihre Grausamkeit ihm gegenüber bestrafen würde. Ihre Hoffnungen stiegen und sanken, als die verschiedenen Szenen passierten. Manchmal zweifelten sie und fürchteten, sie seien betrogen worden. Aber die Stimme, die sie auf dem Berg der Verklärung gehört hatten und die Herrlichkeit, von der sie dort Zeugen geworden waren, stärkten sie in der Überzeugung, dass er der Sohn Gottes war. Sie riefen sich die spannenden Szenen in Erinnerung, die sie erlebt hatten; die Wunder, die sie Jesus tun sahen, indem er die Kranken heilte, die Augen der Blinden öffnete, die tauben Ohren aufmachte, Teufel tadelte und austrieb, Tote zum Leben erweckte und sogar den Wind tadelte, und er gehorchte ihm. Sie konnten nicht glauben, dass er sterben würde. Sie hofften, er würde doch noch mit Macht aufstehen und mit seiner gebietenden Stimme diese blutdürstige Menge zerstreuen; wie damals, als er in den Tempel eintrat und diejenigen vertrieb, die das Haus Gottes zu einem Kaufhaus gemacht hatten, und sie vor ihm flohen, als wenn eine Schar bewaffneter Soldaten sie verfolgte. Die Jünger hofften, dass Jesus seine Macht offenbaren und alle davon überzeugen würde, dass er der König von Israel war.

Judas wurde von bitteren Gewissensbissen und Scham erfüllt über seine treulose Tat, Jesus verraten zu haben. Und als er die Misshandlungen sah, die Jesus erleiden musste, wurde er überwältigt. Er hatte Jesus geliebt, aber er liebte das Geld noch mehr. Er hatte nicht gedacht, dass Jesus sich von dem Mob, den er anführte, gefangen nehmen lassen würde. Er dachte, Jesus würde ein Wunder wirken und sich selbst von ihnen befreien. Aber als er die wütende Menge in der Gerichtshalle sah, die nach Jesu Blut dürstete, da fühlte er tief seine Schuld. Und während viele Menschen Jesus heftig beschuldigten, stürzte Judas durch die Menge und bekannte, er hätte gesündigt, indem er unschuldiges Blut verraten hatte. Er bot ihnen das Geld zurück an und bat sie, Jesus freizulassen und erklärte, dieser sei gänzlich unschuldig. Ärger und Verwirrung ließen die Priester für kurze Zeit verstummen. Sie wollten nicht, dass das Volk erfahren würde, dass sie einen der erklärten Nachfolger Jesu angeheuert hatten, ihn in ihre Hände zu verraten. Sie wünschten zu verheimlichen, dass sie Jesus wie einen Dieb gejagt und ihn heimlich ergriffen hatten. Aber das Bekenntnis des Judas, sein verstörtes und schuldiges Aussehen, stellte die Priester vor der Menge bloß und bewies, dass es Hass war, der sie dazu gebracht hatte, Jesus zu ergreifen. Als Judas laut erklärte, Jesus sei unschuldig, da erwiderten die Priester: „Was geht uns das an? Das ist deine Sache!“ Sie hatten Jesus in ihrer Gewalt und waren entschlossen, ihn festzuhalten. Überwältigt von Seelenschmerzen warf Judas das Geld, das er nun verachtete, denen zu Füßen, die ihn angeheuert hatten und ging in Seelenqual und Schrecken über sein Verbrechen fort und erhängte sich.

Jesus hatte viele Anhänger in dieser Menge und sein Schweigen auf alle an ihn gestellten Fragen erstaunte die Menge. Trotz aller Beleidigungen und allen Hohns lag nicht ein missbilligter Blick, nicht ein beunruhigter Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war würdevoll und gelassen. Sein Benehmen war vollkommen und edel. Die Zuschauer sahen mit Verwunderung auf ihn. Sie verglichen seine vollkommene Gestalt, sein festes, würdiges Verhalten mit derjenigen, die über ihn zu Gericht saßen und sagten zueinander, er erscheine mehr wie ein König, dem ein Königreich anvertraut sei, als irgendeiner der Herrscher. Er trug keinerlei Merkmale eines Verbrechers. Seine Augen war sanft, klar und furchtlos; seine Stirn breit und hoch. Jeder Gesichtszug war stark durch Wohlwollen und edle Grundsätze gezeichnet. Seine Geduld und Enthaltung waren den Menschen so unähnlich, dass viele erzitterten. Sogar Herodes und Pilatus wurden sehr beunruhigt durch sein edles, göttliches Verhalten.

Pilatus war von Anfang an davon überzeugt, dass Jesus kein gewöhnlicher Mensch sei, sondern ein hervorragender Charakter. Er glaubte, dass er gänzlich unschuldig sei. Die Engel, welche die ganze Szene bezeugten, bemerkten die Überzeugungen von Pilatus und gaben acht auf sein Mitgefühl und Mitleid für Jesus. Um ihn davor zu bewahren, bei der schrecklichen Tat mitzuwirken, Jesus der Kreuzigung auszuliefern, wurde ein Engel zu Pilatus’ Frau gesandt und gab ihr in einem Traum Informationen darüber, dass es der Sohn Gottes war, in dessen Gerichtsverfahren Pilatus beschäftigt war, und dass er ein unschuldig Leidender war. Sie sandte sofort eine Nachricht an Pilatus, dass sie in einem Traum viel um Jesu willen erlitten habe, und sie warnte ihn, nichts zu tun zu haben mit diesem heiligen Mann. Der Bote, der den Brief überbrachte, drängte sich eilig durch die Menge und übergab ihn Pilatus. Als dieser ihn las, erzitterte er und wurde blass. Er entschloss sich sogleich, er würde nichts mit dieser Sache zu tun haben. Und wenn man Jesu Blut haben wollte, so würde er nicht seinen Einfluss dazu geben, sondern sich darum bemühen, ihn zu befreien.

Als Pilatus hörte, dass Herodes in Jerusalem war, freute er sich und hoffte, sich selbst aus dieser so ganz unangenehmen Sache befreien zu können und nichts mit der Verurteilung Jesu zu tun zu haben. Er schickte ihn mit seinen Anklägern zu Herodes. Herodes war verhärtet. Sein Mord an Johannes hatte einen Fleck auf seinem Gewissen hinterlassen, von dem er sich nicht befreien konnte. Und als er von Jesus hörte und von den mächtigen Wundern, die er tat, da dachte er, es wäre der vom Tod auferstandene Johannes. Er fürchtete sich und zitterte, denn er trug ein schuldiges Gewissen. Jesus wurde durch Pilatus in Herodes’ Hände ausgeliefert. Herodes betrachtete diese Tat als Anerkennung seiner Macht, Autorität und seines Gerichts von seitens Pilatus. Sie waren zuvor Feinde gewesen, aber dann wurden sie Freunde. Herodes war erfreut, Jesus zu sehen, denn er erwartete, dass er irgendein mächtiges Wunder zu seiner Befriedigung wirken würde. Doch es war nicht Jesu Aufgabe, Herodes’ Neugier zu befriedigen. Seine göttliche und wunderwirkende Macht sollte zur Rettung anderer ausgeübt werden, aber nicht für sich selbst.

Jesus antwortete nichts auf die vielen Fragen, die Herodes ihm stellte; noch beachtete er seine Feinde, die ihn heftig anklagten. Herodes wurde wütend, weil Jesus seine Macht nicht zu fürchten schien, und mit seinen Kriegsmännern verlachte, verspottete und misshandelte er den Sohn Gottes. Herodes war erstaunt über die edle, göttliche Erscheinung Jesu, als dieser so schändlich misshandelt wurde, und er fürchtete sich, ihn zu verurteilen und sandte ihn wieder zu Pilatus.

Satan und seine Engel versuchten Pilatus und bemühten sich, ihn zu seinem eigenen Ruin zu führen. Sie gaben ihm ein, dass, wenn er keinen Teil an der Verurteilung Jesu nehmen würde, dann würden andere es tun. Die Menge dürstete nach seinem Blut, und wenn er Jesus nicht der Kreuzigung ausliefern würde, so würde er seine Macht und weltliche Ehre verlieren, und er würde als Gläubiger an den Betrüger, wie sie Jesus bezeichneten, gebrandmarkt werden. Aus Furcht, er könnte seine Macht und Autorität verlieren, willigte Pilatus in den Tod Jesu ein. Und obwohl er das Blut Jesu auf dessen Ankläger schob und die Menge es annahm und schrie „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“, war Pilatus trotzdem nicht rein; er war schuldig an dem Blut Christi. Aus eigenem, selbstsüchtigen Interesse und aus Liebe zur Ehre von den großen Männern der Erde, lieferte er einen unschuldigen Menschen dem Tode aus. Wenn Pilatus seiner Überzeugung gefolgt wäre, so hätte er nichts mit der Verurteilung Jesu zu tun gehabt.

Das Verhör und die Verurteilung Jesu beeindruckten die Gemütern vieler, Eindrücke, die sich nach seiner Auferstehung zeigen würden; und viele würden der Gemeinde hinzugefügt werden, deren Erfahrung und Überzeugung auf die Zeit von Jesu Verhör zurückzuführen waren.

Satans Wut war groß, als er sah, dass alle Grausamkeiten, zu denen er die Hohenpriester verleitet hatte, um sie Jesus zuzufügen, nicht das geringste Murren bei diesem hervorrief. Ich sah, obwohl Jesus die menschliche Natur auf sich genommen hatte, hielt ihn eine göttliche Kraft und Seelenstärke aufrecht, und er wich nicht im Geringsten von dem Willen seines Vaters ab.

Siehe Matthäus 26,57 ‑ 27,31; Lukas 22,54 ‑ 23,25; Markus 14,53 ‑ 15,20; Johannes 18,12 ‑ 19,16

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